Preisträgerin: SIMONA RYSER
Der 2006 erstmals verliehende Preis der Studer/Ganz-Stiftung geht an Simona Ryser für ihr Prosamanuskript «Maries Gespenster». Die siebenköpfige Jury hat aus 29 eingesandten Manuskripten den Prosatext von Simona Ryser ausgewählt. Simona Ryser ist 1969 in Zürich geboren und arbeitet als Autorin, Sängerin, Journalistin und Hörspielregisseurin.
Simona Ryser, die mit hohem sprachlichem Bewusstsein ans Werk geht, lässt ihre Geschichte in der Vorstellungswelt der weiblichen Hauptfigur Marie spielen, die nach dem Tod ihrer Mutter aus der Bahn geworfen wird und sich dieser Verwirrung ungeschützt stellt. Wie ein Reigen tauchen Märchenelemente, literarische Verweise und Motive immer wieder auf und verdichten sich in grosser Trauer und in der Suche nach einem Leben danach. 2008 gewinnt Simona Ryser mit «Maries Gespenster»den Rauriser Literaturpreis für die beste deutschsprachige Prosa-Erstveröffentlichung.
Laudatio von Kristin T. Schnider, Jurymitglied
Autorinnenporträt
Simona Ryser, geboren 1969 in Zürich, Lehre als Verlagsbuchhändlerin, Maturitätsschule für Erwachsene, Gesangsunterricht und Meisterkurse, Studium der Philosophie und der deutschen Literatur. Arbeitete als Verlagslektorin und als Opernsängerin, seit 1998 künstlerische Leitung und Darstellung in Musiktheaterproduktionen unter dem Label «szene und musik», freischaffend als Hörspielregisseurin, als Autorin, Sängerin und Journalistin. 2008 gewann Simona Ryser mit dem von der Studer/Ganz-Stiftung 2006 ausgezeichneten Prosawerk «Maries Gespenster»den Rauriser Literaturpreis für die beste deutschsprachige Prosa-Erstveröffentlichung.
Buchdaten
Simona Ryser. Maries Gespenster. Roman
Limmat Verlag, Zürich 2007
140 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85791-535-2
Inhaltsangabe
Marie wird nach dem Tod ihrer Mutter aus der Bahn geworfen. Verstrickt in innere Kämpfe um Ablösung und Erlösung, hangelt sie sich durch den Tag, lässt sich aushalten von Verehrern, sucht manchmal einen Job. Sie liebt Wolf, kauft mit Manfreds Kreditkarte ein, geht mit Hans aus. Vor allem streift sie ziellos durch die Stadt, und im Bus, im Bahnhof, in der Delikatessabteilung steht plötzlich die Mutter vor ihr. Mit Arbeitslisten der wichtigsten Dinge versucht Marie, in ihrem inneren und äusseren Durcheinander Ordnung zu schaffen.
In schlanker, musikalischer Sprache umkreist «Maries Gespenster» eine Geschichte von Verlust und Wiederfinden, von Abwesenheit und Begehren, von Trauma und Sprache. Wie ein Reigen tauchen Märchenelemente, literarische Verweise und Motive immer wieder auf und verdichten sich zu einem eindringlichen Text über eine grosse Trauer und die Suche nach einem Leben danach.
Textprobe
Als sie die Mutter wegtrugen, muss sie sehr leicht gewesen sein. Ihre hohlen Augen blickten erstaunt, der Mund stand offen, als die Männer sie in die Luft hoben, und gab keinen Laut von sich. Ihr Körper war ein lustig verdrehtes Gestell, die grauen Haarzotten standen weit ab vom Kopf, wie bei Rumpelstilzchen. Als Rumpelstilzchens Name erraten worden war, fuhr es wutentbrannt in die Erde. Die Mutter aber starb schweigend. Die weißen Männer wussten nicht, in welches Reich sie eingedrungen waren und wen sie auf die Bahre legten. Marie schwieg. Vater, Mutter und Marie fanden keine Worte, erstarrt lagen sie sich in den Blicken. Erstaunt darüber, wie einfach, selbstverständlich und rasch ein ewiges Familienreich sich auflösen konnte, in das bisher nie jemand eingedrungen war. Ganz leicht entwichen die Ausdünstungen der vergangenen Jahre durch die Öffnungen, die die Männer in das Haus rissen, und die wenigen Lichtstrahlen in den Zimmerecken wurden vom grellen Sonnenlicht, das durch die Fenster drang, so ausgeblendet, als wären sie niemals da gewesen. Die Männer arbeiteten sauber, schnell und routiniert. Sie durchschnitten das Haus mit ein paar gezielten Schritten und schafften mit wenigen Handgriffen Ordnung.
Wo vorher jahrelang die Mutter gelegen hatte und Marie und die Schwester und der Vater in ausgewählten Stunden einzeln oder auch in Gruppen vorsprachen und ihre Anträge und Bedürfnisse vorbrachten, waren nur noch ein paar kümmerliche Falten im durchgelegenen Bettlaken zu sehen. Die Mutter war zu leicht gewesen, als dass sich eine erwähnenswerte Vertiefung in der alten Matratze abgezeichnet hätte. Die Sachlage war einfach: das Bett, das vorher besetzt war, war jetzt leer. Die Männer hatten die Mutter geholt, sie schoben sie ins Auto und fuhren ohne Blaulicht ins Krankenhaus. Stumm fuhren der Vater und Marie hinter her. Von da an schwieg Rumpelstilzchen.
© Limmat Verlag, Zürich
Jury
Alexandra Kedves, Erwin Künzli, Beat Mazenauer, Daniel Rothenbühler, Kristin T. Schnider, Liliane Studer, Martin Zingg
Moderation: Theres Roth-Hunkeler