Preisträgerin: BARBARA SCHIBLI
Der Studer/Ganz-Preis 2016 geht an Barbara Schibli für ihr Manuskript «Flechten». Der Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosadebüt ist mit CHF 5000 dotiert und verbunden mit einer Veröffentlichung im Dörlemann Verlag Zürich.
Bis zum 30. Juni 2016 gingen bei der Studer/Ganz-Stiftung aufgrund der Preisausschreibung 29 Prosamanuskripte ein (2014: 26; 2012: 47), aus denen eine siebenköpfige Jury den Text «Flechten» auswählte. Die Preisträgerin Barbara Schibli, 1975 in Baden geboren und im Aargau aufgewachsen, hat Germanistik, italienische Literaturwissenschaft und Publizistik studiert. Seit 2000 lebt sie in Zürich und arbeitet als Gymnasiallehrerin in Baden.
Im Roman von Barbara Schibli sei, so die Begründung der Jury, eine neue literarische Stimme zu vernehmen. Die Autorin erzählt von einem Schwesternpaar – es handelt sich um eineiige Zwillinge – und von deren gegenseitiger Abhängigkeit. Anna, die Ich-Erzählerin, arbeitet als Flechtenforscherin und betrachtet ihren Forschungsgegenstand durch das Mikroskop, während Leta, ihre Schwester, seit Kindheit die Welt durch die Kameralinse erfasst. Dabei macht Leta auch vor Anna nicht halt. In einer grossen Ausstellung zeigt sie eine Serie von Aufnahmen ihrer Schwester. Irritierend wirkt für Anna, dass Leta das Zeichen, das die beiden Schwestern voneinander unterscheidbar machte, wegretouchiert hat. Anna wird zum Kunstobjekt ihrer Schwester. Barbara Schibli überzeugt in ihrem Roman mit überraschenden Bildern und Metaphern, ihr Schreiben trägt eine eigene poetische Handschrift. Es gelingt ihr, Familienforschung mit naturwissenschaftlicher Forschung zu verbinden. Dabei werden Zürich, Bever und Lammi gleichermassen Schauplätze botanisch-poetischer Erkundungen der Flechten- und «Zwillingsforscherin» Anna und der Fotografin Leta.
Der Studer/Ganz-Preis für den besten unveröffentlichten Erstling wurde im Frühjahr 2016 zum sechsten Mal ausgeschrieben. Frühere Preisträgerinnen und Preisträger waren: Simona Ryser (2006), Roman Graf (2008), Maja Peter (2010) und Henriette Vásárhelyi (2012). Vor zwei Jahren, 2014, verzichtete die Jury darauf, ein Manuskript auszuzeichnen.
Die öffentliche Preisverleihung fand am 24. November 2016 im lit.z Literaturhaus Zentralschweiz statt. Die Laudatio hielt Ruth Gantert, Barbara Schibli las aus ihrem Manuskript.
Laudatio von Ruth Gantert, Jurymitglied pdf herunterladen
Autorinnenporträt
Barbara Schibli, 1975 in Baden geboren und im Aargau aufgewachsen, hat Germanistik, italienische Literaturwissenschaft und Publizistik studiert. Sie lebt in Zürich und arbeitet an der Kantonsschule Baden, neben dem Grundlagenfach Deutsch erteilt sie auch das Freifach Literarisches Schreiben.
Lesungen/Auszeichnungen
PolARTS Tandem von Pro Helvetia und Swiss Polar Institut mit Gabriela Schaepman-Strub, Professorin für Erdsystemwissenschaften an der Universität Zürich
prohelvetia.ch/de/2020/04/polarts-tandems/
ChiassoLetteraria, Literaturfestival in Chiasso zum Thema "Risse" Lesung mit dem Jahrbuch der Schweizer Literaturen Viceversa
6. September, 15.30 Uhr
First Translation Festival, Maribor, Slowenien
11. bis 15. Juni 2020 (verschoben)
Prämierung Kurzhörspiel «Marderschreck», Jury-Preis am sonOhr-Festival
Buchdaten
Barbara Schibli. Flechten. Roman
Dörlemann Verlag, Zürich 2017
192 Seiten, gebunden
ISBN 9783038209515
Inhaltsangabe
Wer bin ich? Diese Frage ist für Anna nicht einfach zu beantworten, denn sie ist ein eineiiger Zwilling. Und eineiige Zwillinge sind eine einzige Zumutung. Sie ist aus dem bündnerischen Bever nach Zürich gezogen, um Biologie zu studieren. Nun arbeitet sie in der Flechtenforschung, während ihre Schwester Leta sich der Fotografie widmet. Beide betrachten die Welt durch eine Linse: Anna durch das Mikroskop, während Leta seit der Kindheit obsessiv Anna fotografiert.
Als Anna nach Treviso zur Eröffnung von Letas Fotoinstallation »Observing the Self« fährt, fühlt sie sich von ihr verraten, missbraucht und ausgelöscht. Denn Leta hat das einzige Zeichen, das sie beide unterscheidet, wegretuschiert. Barbara Schibli gelingt ein packend-poetisches Frauenporträt in ihrem originellen Debütroman, in dem sie gekonnt Kunst und Wissenschaft mit der Frage nach Identität in der modernen Gesellschaft verwebt.
Textprobe
Die Neue und ich sind für die Flechten hier, die anderen unserer Gruppe für Moose, Farne, Algen und Pilze, alles Kryptogamen – Gewächse, die im Verborgenen heiraten, so hat sie Carl von Linné in seiner Pflanzensystematik bezeichnet. Was wir am Institut tun, erscheint konspirativer, als es ist. Ich mikroskopiere, bahne mir einen Weg durch den schleppenden Vormittag, ein weiterer von der Sorte, an denen die Bestandsaufnahme nicht vorwärtsgeht. Wir sind umtriebig, aber worauf das alles letztlich hinausläuft, verlieren wir dabei leicht aus den Augen. Mit einer Rasierklinge mache ich einen Schnitt durch eines der Ästchen der Cladonia, lege es auf den Objektträger, zoome hinein. Jetzt wächst alles, schlägt aus, treibt. Im Mikroskop wird jedes Ästchen zum Baum, ein Wald öffnet sich. Gleichzeitig verengt sich mein Blick immer mehr. Punkte, Linien, Netze, vermeintliche Bewegungen. Mit beiden Augen sehen, keines zusammenkneifen. Und das Präparat so anschauen, als würde der Blick in eine weite Landschaft schweifen, mit völlig entspannter Augenmuskulatur. Man lernt, die fliegenden Flecken zu ignorieren, die unregelmäßigen, schwarzen Fäden, die mit jeder Augenbewegung übers Gesichtsfeld tanzen, ein Flirren, das mich anfangs fast irremachte. Es sind die Schatten von Schlieren in der Augenflüssigkeit,
die das helle Mikroskopierlicht auf die Netzhaut zurückwirft. Man meint, ein Stück unbekannte Natur zu beobachten, dabei ist es ein Teil von einem selbst.
© Dörlemann Verlag, Zürich
Jury
Sabina Altermatt, Sabine Dörlemann, Ruth Gantert, Sabine Graf, Liliane Studer, Raphael Urweider, Alexandra von Arx
Moderation: Michael Guggenheimer