Preisträgerin: JULIA KOHLI
Bereits zum siebten Mal wurde im Frühjahr 2018 der Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosamanuskript ausgeschrieben. Bis zum 30. Juni 2018 gingen bei der Studer/Ganz-Stiftung 34 Prosamanuskripte ein (2014: 26, 2016: 29), die anonymisiert an eine siebenköpfige Jury gingen. Diese Jury hat an ihrer Sitzung Ende September beschlossen, das Manuskript «Böse Delphine» (Arbeitstitel) von Julia Kohli mit dem diesjährigen Studer/Ganz-Preis auszuzeichnen. Mit dem Preis verbunden ist eine Publikation im Lenos Verlag.
Der Roman überzeugt die Jury mit seiner Sprache und seinem Setting: Ich-Erzählerin ist die dreissigjährige Halina, die nach dem Konkurs der Buchhandlung, in der sie arbeitete, einen Aushilfsjob im Flughafenkiosk annimmt, um ihr Geschichtsstudium zu finanzieren. Sie berichtet aus ihrem Arbeitsalltag im Transitbereich, von Schikanen durch Vorgesetzte und Solidarität unter Angestellten, von Begegnungen mit Kunden und Zufallsbekannten. Nach der Arbeit pendelt sie in den Zürcher Kreis 4, trifft den Archäologie-Studenten Elias oder ihre Künstlerfreundin Nada, besucht Konzerte, Partys und Vernissagen – doch sie fühlt sich nirgends ganz zugehörig. Liegt es daran, dass ihre Familie in die Schweiz eingewandert ist? Satirisch, humorvoll und schonungslos sich selbst wie anderen gegenüber erfasst die junge Frau Situationen und Beziehungen. Julia Kohli erzählt nüchtern, sachlich und genau. Sie verzichtet auf psychologische Erklärungen und schafft ohne jedes Pathos das Bild einer Generation zwischen Coolness und Verlorenheit, zwischen Ironie und Intimität.
Seit 2006 schreibt die Studer/Ganz-Stiftung alle zwei Jahre den gleichnamigen Debütpreis aus. Frühere Preisträgerinnen und Preisträger waren: Simona Ryser (2006), Roman Graf (2008), Maja Peter (2010), Henriette Vásárhelyi (2012), Barbara Schibli (2016). 2014 wurde auf eine Auszeichnung verzichtet.
Die öffentliche Preisverleihung fand am 14. November 2018 im lit.z Literaturhaus Zentralschweiz statt. Die Laudatio hielt Ruth Gantert, Julia Kohli las aus ihrem Manuskript.
Laudatio von Ruth Gantert, Jurymitglied pdf herunterladen
Autorinnenporträt
Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre. Ausserdem studierte sie Wissenschaftliche Illustration sowie Anglistik und Osteuropäische Geschichte in Zürich. Sie arbeitet als freie Illustratorin und Onlineproduzentin bei der NZZ und studiert Kulturpublizistik an der ZHdK. Sie lebt in Zürich.
Lesungen/Auszeichnungen
Zurzeit keine Lesungen
Buchdaten
Julia Kohli. Böse Delphine. Roman
Lenos Verlag, Basel 2018
190 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-85787-496-3
Inhaltsangabe
Halina studiert Geschichte und arbeitet im Buchkiosk am Zürcher Flughafen. Im Transitbereich beobachtet sie die Schikanen der Vorgesetzten und die Solidarität unter Angestellten. Mit Freunden aus der Akademikerwelt besucht sie Konzerte, Partys und Vernissagen. Doch nirgends fühlt sie sich ganz zugehörig, überall entdeckt sie Absurditäten im scheinbar Normalen. Und auch in der Liebe läuft so einiges aus dem Ruder, dabei fängt es so gut an mit Elias, dem charmanten Archäologen und perfekten Schwiegersohn.
Textprobe
Ich folgte Bissig zum Warenlift. Er drückte den Knopf für das dritte Untergeschoss und parkierte seinen Transportwagen neben mir. Wir schwiegen. Er schwieg besser.
Im Lift starrte ich auf die gestapelten Zeitschriftenbündel auf seinem Wagen und vermied Augenkontakt. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Aus unerklärlichen Gründen stimmte mich das euphorisch. Als öffnete sich bald ein Tor zu einer besseren Welt. Vielleicht war es auch das Kerosin, das am Flughafen durch alle Ritzen drang. Bewegung, Kraft und Zukunft lagen in diesem beissenden Dunst.
Der Lift setzte sich unsanft in Bewegung, sog Bissig und mich nach unten und liess die Bündel auf dem Wagen erzittern. Eines fiel sofort herunter. Ich hob es auf und platzierte es wieder an seinen Ort. Bissig rückte es zurecht und liess seine Hand auf dem Bündel ruhen. Er traute mir offenbar nicht. Es war mein erster Tag am Flughafen.
Unter der Erde angekommen, betraten wir ein Betonlabyrinth. Ich begleitete Bissig durch den niedrigen, engen Gang. Mangelhaft isolierte Kabel ragten alle paar Meter wie Fühler aus den rohen Wänden. Ich bemühte mich, in der Mitte zu gehen. Vielleicht war da Starkstrom. Arbeiter in blauen Overalls kamen uns entgegen. Ein älterer runder Mann salutierte und zwinkerte mir dabei zu.
Wir erreichten den Raum, in dem die Arbeit verrichtet werden sollte. Der Lagerraum für sämtliche Flughafenkioske. Zeitschriften und Kisten stapelten sich hier. Es roch nach Desinfektionsmittel und Keller. An der Wand vor mir hing ein Poster, auf dem sich eine nackte Blondine räkelte. Ihre Haut spannte sich über ihren prallen, muskulösen Körper und schimmerte in öligem Braun. Härter als die Betonwand. Die Brüste, dem Bersten nahe, schielten sinnentleert in Bissigs neonbeleuchteten Kellerraum.
© Lenos Verlag, Basel
Jury
Sabina Altermatt, Ruth Gantert, Sabine Graf, Manfred Koch, Lucia Lanz, Liliane Studer, Raphael Urweider
Moderation: Michael Guggenheimer