Preisträger: THOMAS DUARTE
Bereits zum achten Mal wurde im Frühjahr 2020 der Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosamanuskript ausgeschrieben, zum ersten Mal gab es keine Altersgrenze für die Autorinnen und Autoren. Bis zum 30. Juni 2020 gingen bei der Studer/Ganz-Stiftung 58 Prosamanuskripte ein (2016: 29; 2018: 34), die anonymisiert an eine siebenköpfige Jury gingen. Diese Jury hat an ihrer Sitzung Anfang Oktober beschlossen, das Manuskript «Was der Fall ist» (Arbeitstitel) von Thomas Duarte mit dem diesjährigen Studer/Ganz-Preis auszuzeichnen. Mit dem Preis verbunden ist eine Publikation im Lenos Verlag.
Der Roman überzeugt die Jury sowohl mit seiner originellen Thematik als auch mit der raffinierten Erzählsituation und mit einer unprätentiösen und genauen Sprache. Was treibt der Ich-Erzähler, Angestellter eines wohltätigen Vereins, um halb ein Uhr nachts in einem Polizeiposten und was bringt ihn dazu, dem diensthabendenden Polizisten seine Geschichte zu erzählen? Weshalb verrät er dabei die ohne Aufenthaltserlaubnis arbeitende Putzfrau Mira, die er selbst in einem Hinterzimmer seines Büros untergebracht hat? Wie reagiert der Polizist auf die Aussa-gen, die er in jener durchwachten Nacht protokolliert? Und wie nimmt der Chef des Erzählers den Bericht auf, den sein Untergebener anschliessend schreibt und ihm vorliest? Unaufgeregt und mit feiner Ironie entlarvt Thomas Duartes Text Gemeinplätze und bringt vorgefasste Sicht-weisen ins Wanken. Dabei reflektiert er nicht nur das Erzählen und Rezipieren von Geschichten, er porträtiert auch mit frohgemuter Verzweiflung die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedin-gungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft.
Seit 2006 schreibt die Studer/Ganz-Stiftung alle zwei Jahre den gleichnamigen Debütpreis aus. Frühere Preisträgerinnen und Preisträger waren: Simona Ryser (2006), Roman Graf (2008), Maja Peter (2010), Henriette Vásárhelyi (2012), Barbara Schibli (2016) und Julia Kohli (2018). 2014 wurde auf eine Auszeichnung verzichtet.
Die öffentliche Preisverleihung fand am 29. September 2021 im lit.z Literaturhaus Zentralschweiz statt. Die Laudatio hielt Manfred Koch, Thomas Duarte las aus seinem Manuskript.
Laudatio von Manfred Koch, Jurymitglied pdf herunterladen
Autorenporträt
Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissen- schaft. Thomas Duarte lebt in Bern.
Lesungen/Auszeichnungen
Nomination für den Schweizer Buchpreis 2021
Buchdaten
Thomas Duarte. Was der Fall ist. Roman
Lenos Verlag, Basel 2021
301 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-03925-016-5
Inhaltsangabe
Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.
Textprobe
es nieselt
Die Polizei hat mich aufgefordert, darüber Bericht zu erstatten, warum ich unsere Putzfrau in meinem Büro untergebracht hatte. Oder genauer: Warum ich sie darin versteckt gehalten hatte. Meinetwegen, ich habe nichts zu verheimlichen. Ich habe ja schon auf dem Posten alles ausführlich zu Protokoll gegeben. Weshalb schon bringt man eine Frau bei sich unter? Sie gefiel mir, ja, was sonst? Es ist auch gar nicht die richtige Frage. Die Frage, die mich selbst beschäftigt, ist eher die, warum ich sie verraten habe. Als ich den Polizeiposten betrat, war es etwa halb ein Uhr nachts. Ich war müde und fror. Den ganzen Abend war ich ziellos durch die Stadt geirrt. Die Sache mit der Jahresversammlung ging mir nicht mehr aus dem Kopf, sie war schlecht gelaufen diesmal, und ich hatte mich ungeschickt angestellt. Das war zwei Tage früher gewesen, und Silvana hatte alle gegen mich aufgehetzt. Alles sei nur geschwindelt, hatte sie gesagt und sich dabei in die Pose der Grossreinemacherin geworfen. Alles, die Unterstützungsgesuche, mit denen sich unsere Organisation beschäftigt, die Abrechnungen, die Statistiken: ein einziger Schwindel! Und das Schlimmste: Bei ihren Nachforschungen sei sie auf zahlreiche zwielichtige »Finanztransaktionen« gestossen – sie sagte wirklich »Finanztransaktionen« und meinte damit wohl Banküberweisungen und Zahlungen aus der Kasse. Betrug!, sagte sie. Das riecht nach Betrug! Allerdings brauche es noch weitere Abklärungen, die Aktenlage sei noch undurchsichtig. Sie wedelte mit einem Klarsichtmäppchen, und ihre Vogelstimme überschlug sich beinahe. Bischoff und Dr. Schneider sassen nur stumm daneben und spielten die Entrüsteten. Albrecht lief grün an, und Dr.?Graber, der Revisor, wurde blass, machte einen spitzen Mund und fing an zu schnaufen. Nur Charly sah mich ohne Vorwurf mit überraschtem und traurigem Blick an. Es ging ihnen dann im weiteren Verlauf der Versammlung nur noch darum, meinen Chef zu schützen und ihn von jeder Mitverantwortung freizusprechen. Er hatte ja ganz offensichtlich, so wiederholte Silvana mehrmals, von nichts etwas gewusst. Silvana war vielleicht auch so etwas wie meine Chefin, oder sie benahm sich wenigstens so. Mein Chef selbst sagte zu der ganzen Sache nichts, lächelte nur grimmig und schwieg, er wirkte so gar nicht mehr wie der wortgewandte und weitgereiste Abenteurer, als den wir ihn von früher her kannten. Mich liessen sie am Ende fallen. Auf einmal sprachen sie von mir als dem »Geschäftsführer«, dem man also auch die ganze Verantwortung zuschieben konnte. Früher war ich immer nur der Büroangestellte gewesen, einer ohne jede Entscheidungsgewalt. Im Grunde hätte mich das alles erleichtern müssen. Aber statt Erleichterung fühlte ich nur das Nahen einer noch nicht klar bestimmbaren Katastrophe.
© Lenos Verlag, Basel
Jury
Sabina Altermatt, Ruth Gantert, Sabine Graf, Manfred Koch, Lucia Lanz, Liliane Studer, Raphael Urweider
Moderation: Elio Pellin