Preisträgerin: GIANNA OLINDA CADONAU
Bereits zum neunten Mal wurde im Frühjahr 2022 der Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosamanuskript ausgeschrieben. Bewerben konnten sich Autorinnen und Autoren jeden Alters, die entweder das Schweizer Bürgerrecht oder ihren ständigen Wohnsitz in der Schweiz haben. Bis zum 15. Juni 2022 gingen bei der Studer/Ganz-Stiftung 56 Prosamanuskripte ein (2018: 34; 2020: 58), die anonymisiert von einer siebenköpfigen Jury beurteilt wurden. Diese Jury hat an ihrer Sitzung Ende September beschlossen, das Manuskript «Feuerlilie» (Arbeitstitel) von Gianna Olinda Cadonau mit dem diesjährigen Studer/Ganz-Preis auszuzeichnen. Mit dem Preis verbunden ist eine Publikation im Lenos Verlag.
Die Jury zeigt sich beeindruckt von der Vielschichtigkeit des Romans «Feuerlilie», der körperliche und psychische Versehrtheit thematisiert: In einem Engadiner Dorf trifft Vera, deren Schwester Sophia immer wieder in einer psychiatrischen Klinik verschwindet, auf einen offensichtlich von Folter und Kriegstraumata gezeichneten Mann, dem sie sich annähert, mit grosser Zurückhaltung und wachsendem Interesse für den Menschen. Multiperspektivisches Erzählen und skurrile Momente, die die Realitäten weniger bedrohlich erscheinen lassen können, hindern daran, vorschnell Kausalitäten erkennen zu wollen. Der Text kommt ohne Erklärungen aus, was bei der Lektüre zu einer produktiven Spannung führt. Die Frage, wie eine junge Frau mit der Versehrtheit der psychisch kranken Schwester und dem gefolterten und traumatisierten Fremden umgehen kann, bleibt unbeantwortet. Sprachlich überzeugend und mit starken Bildern unterläuft der Roman Erwartungshaltungen und schafft eine über das Heute hinausführende Aktualität.
Seit 2006 schreibt die Studer/Ganz-Stiftung alle zwei Jahre den gleichnamigen Debütpreis aus. Frühere Preisträgerinnen und Preisträger waren: Simona Ryser (2006), Roman Graf (2008), Maja Peter (2010), Henriette Vásárhelyi (2012), Barbara Schibli (2016), Julia Kohli (2018) und Thomas Duarte (2020). 2014 wurde auf eine Auszeichnung verzichtet.
Die öffentliche Preisverleihung fand am 10. November 2022 im lit.z Literaturhaus Zentralschweiz statt. Die Laudatio hielt Liliane Studer, Gianna Olinda Cadonau las aus ihrem Manuskript.
Laudatio von Liliane Studer, Jurymitglied pdf herunterladen
Autorinnenporträt
Gianna Olinda Cadonau wurde 1983 in Panaji, Indien, geboren und wuchs in Scuol im Engadin auf. Sie studierte Internationale Beziehungen am Institut des Hautes Etudes Internationales in Genf und schloss 2010 ein Nachdiplomstudium in Kulturmanagement an der ZHAW Winterthur ab. Seit 2010 leitet sie die Kulturabteilung der Lia Rumantscha und engagiert sich darüber hinaus als Literaturvermittlerin. Gianna Olinda Cadonau schreibt Gedichte und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Sie lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur.
Lesungen/Auszeichnungen
29. Oktober 2023, 17:00 Uhr
Schwyz, i de Fabrik, Laubstrasse 4
6. November 2023, 19:30 Uhr
Schaffhausen, Stadtbibliothek, Münstergasse 1
11. November 2023, 14:45 Uhr
Zug, Theater am Burgbachkeller, St. Oswalds-Gasse 3
16. November 2023, 19:30 Uhr
Gottlieben, Literaturhaus Thurgau, Am Dorfplatz 1
Buchdaten
Gianna Olinda Cadonau. Feuerlilie. Roman.
Lenos Verlag, Basel 2023
171Seiten, gebunden
ISBN 978-3-03925-031-8
Inhaltsangabe
In einem abgelegenen Bergdorf lernt die Journalistin Vera einen jungen Fremden kennen. Sie schreibt an einem Artikel über rätoromanische Literatur, er hat ein altes Haus geerbt und versucht seine Kriegserinnerungen hierhin zu verbannen. Die beiden treffen sich zu Spaziergängen, essen zusammen in der Dorfbeiz und erzählen sich nach und nach mit wenigen Worten von ihrer Vergangenheit. Kálmán erinnert Vera an ihre ältere Schwester Sophia, die ihrerseits in einer eigenen Welt lebt. Als Sophia zu Besuch kommt, begegnet auch sie dem geheimnisvollen Kálmán, und es entsteht eine überraschende Verbindung, die beide verändert.
Textprobe
Vera
In der mittleren Gasse
Ich recherchiere seine Herkunft. Ich glaube zu erkennen, woher er kommt, zumindest mehr oder weniger, es gibt hier sonst nicht viele Menschen mit dieser Haut, dieses Hellbraun, die hellen Augen und die dunklen Haare. Mit Namen wie seinem. Kálmán. Da ist der Krieg, den er erwähnt hat, das weiss ich. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht mehr darüber weiss.
Es ist kompliziert und der Anfang lange her. Der Konflikt dauert schon über siebzig Jahre. Am Anfang geht es um Autonomiebestrebungen einer Region. Abkommen werden unterzeichnet, aber die Machtansprüche der angrenzenden Nationen lassen sich damit nicht befriedigen. In den darauffolgenden Jahrzehnten werden Grenzen gezogen, verschoben, Gebiete beansprucht. Schliesslich setzt sich der Konflikt entlang einer Demarkationslinie fest. Die Menschen dieser Region, dieser Welt, die ich als solche gar nicht gemeint habe, vorhin am Dorfrand mit ihm, werden kaum mehr erwähnt, höchstens noch in statistischen Zahlen. Verschwundene Menschen, Kindersoldaten, eine Befürchtung hie und da, dass hier Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden.
Sein Blick vorhin, fest in die Berghänge verkeilt, damit kein noch so kleiner Gedanke abkomme von dieser Bahn zwischen uns und der anderen Talseite, sein Blick, als ob er jeden abtrünnigen Gedanken bestrafen wolle.
In den späteren Berichten dann die Bestätigung dieser Befürchtungen, internationale Streitkräfte werden aktiv, humanitäre Hilfsorganisationen kommen zu Wort, sie wissen schon lange davon. Da die Region aber weiterhin abgeschottet wird, bleibt die Situation prekär und unübersichtlich. Ich konzentriere mich. Ich möchte es verstehen, schliesslich interessiere ich mich für diese Zusammenhänge, für die Weltpolitik.
Wie alt er wohl war, als er abgeholt, rekrutiert wurde? Es war wohl eher eine Entführung und die Kaserne eher ein Gefängnis. Ich frage mich, wie er über seine Herkunft, diesen Konflikt denkt. Auch er muss irgendwie erfahren haben, worum es ging. Vielleicht wurde er nach und nach informiert. Oder aber es wurde ihm nur gesagt, was er tun muss. Das ist wahrscheinlicher. Vielleicht konnte er das, was er wusste, zu einem grösseren Bild zusammenfügen. Vielleicht hat er sich später dafür interessiert, und es wurde ihm erzählt, oder er hat selbst gelesen, was es darüber zu lesen gibt. Im Nachhinein, genau wie ich. Er ist schon einige Jahre hier, in Auffangzentren, Kliniken, in einer Wohnung. Er weiss andere Dinge. Er kennt eine innere Version des Ganzen. Er weiss von Gefängnissen und Folter, wovon in den neusten Berichten geschrieben wird. Er weiss auch von Dingen, die niemand aufgeschrieben hat. Wahrscheinlich weiss er von Attentaten, von Kämpfen an Fronten, die nirgends verzeichnet sind, wo er als Kind, als Jugendlicher war. Und all das, von dem ich weiss, dass es existiert, von dem ich lese, dann und wann, von dem ich höre in den letzten paar Sätzen der Mittagsnachrichten. Ich denke an seine Hände, die auf dem Holzgeländer zitterten, an die Bewegungen seiner Kiefermuskeln und schäme mich ein bisschen. Wofür, weiss ich nicht genau, vielleicht für mein Unwissen oder aber für mein Interesse an der Weltpolitik.
Dieses Mal haben wir uns verabredet. Dieses Mal ist es sicher, dass wir uns wiedersehen. Ich gehe noch einmal raus, klopfe beim Nachbarn. Er stellt sein Auto in unserem Unterstand ab, dafür darf ich es benutzen, wenn er es nicht braucht. Er braucht es am nächsten Tag, aber am übernächsten nicht. Er bittet mich, im Seitental zu tanken und ihm eine Stange Zigaretten mitzubringen. Marlboro Gold.
© Lenos Verlag, Basel
Jury
Ruth Gantert, Manfred Koch, Lucia Lanz, Gianna Molinari, Dominic Oppliger, Liliane Studer, Lydia Zimmer
Moderation: Elio Pellin